– Charles Dickens (1812-1870) –
Child´s Dream
Erinnern Sie sich noch an Ihren allergrößten Kindertraum? Nicht an den Berg aus Gummibärchen, oder an das Rieseneis im Hörnchen, oder an den Flug in einer Seifenblase wie Der Zauberer von Oz. Vielmehr zielt meine Frage auf die von Kindern verwendete Redensart, »Wenn ich mal groß bin werde ich …« Vielleicht waren Sie sich von Kindesbeinen an in Ihrem Traum sicher. Wurden tatsächlich Zauberer, wenn auch nicht der von Oz. Oder waren Sie eher unentschlossen? So wie ich. Konnte mich nicht entscheiden zwischen Indianer oder Cowboy, Lokomotivführer oder Astronaut, Bauarbeiter oder Erfinder.
Vier Jahrzehnte später muss ich kleinlaut eingestehen, dass kein einziger meiner Kinderträume in Erfüllung ging. Stattdessen wurde ich Kupferschmied und Schweißer, Schreiber und Querweltein-Unterwegs-Reisender, – was ich mir, in dieser absonderlichen Konstellation, niemals hätte träumen lassen. Somit steht, nach dem Aufwachen bei Tageslicht betrachtet, mein beruflicher Werdegang als Bestätigung dafür, dass sich die Realität nicht unbedingt und schon gar nicht vollautomatisch aus einem Kindertraum heraus ergibt. Was mich am Ende einer desillusionierenden Weile zu der nüchternen Erkenntnis brachte, dass es zum Weiterkommen im Leben noch etwas mehr braucht, als nur die angeborene Fähigkeit zu träumen. Mit den Worten eines Mechanikers ausgedrückt: ein universelles Traumverwirklichungswerkzeug. So eins, das einen aus der Traumphase herausleitet und im Leben weiterbringt.
Beim Nachsinnen darüber brachte mich schließlich meine eigene Unentschlossenheit auf die Lösung des Problems. Auf den Namen des Werkzeuges: Egal was ich hätte werden wollen, immer hätte es eines bedurft: Bildung! Schließlich hätte ich als Indianer das Rauchzeichen-Alphabet lernen müssen. Und Spurenlesen. Zudem, wie man mit Pfeil und Bogen und mit der Friedenspfeife umzugehen hat. Wohingegen ich, wenn ich Cowboy geworden wäre, den richtigen Umgang mit Lasso und Colt hätte einstudieren müssen. Lernen, dass mit dem Fangseil Rinder und Mustangs eingefangen werden. Wohingegen die aus dem Schießeisen abgefeuerte Kugel zwar mit einem unüberhörbar lauten Knall, aber dafür viel schneller den Indianer erreicht, als der von ihm in entgegengesetzter Richtung geschossene, wenn auch lautlos durch die Luft surrende Pfeil.
Höchstwahrscheinlich waren derartige Grübeleien über die überlebenswichtigen Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Berufe der Grund meiner frühkindlichen Unentschlossenheit. Zweifelnd und abwägend. Ob ich wirklich Indianer werden oder vielleicht doch lieber Cowboy, oder besser gleich etwas Anständiges lernen sollte. Einen Beruf, der nicht nur meine eigene Überlebenswahrscheinlichkeit erhöht, sondern die Gemeinschaft weiterbringt. Beispielsweise als Lokomotivführer. Oder als Astronaut. Oder als Bauarbeiter. Oder als Erfinder. Glauben Sie mir, es war wirklich nicht leicht.
Der Vorteil meiner anhaltenden Unentschlossenheit war, dass ich lange Zeit in einem träumerischen Schwebezustand lebte. Ähnlich verträumt, wie der Zauberer von Oz in der Seifenblase. Auf wunderlicher Weise überlebten sowohl er als auch ich diese originelle Lebensphase, wodurch sich allerdings bei mir, im Gegensatz zu ihm, kein einziger Berufstraum erfüllte. Womit wir beim Kernthema dieser Geschichte wären: bei der Erfüllung von Kinderträumen. Ausgehend von der Tatsache, dass jedes Kind auf dieser Welt träumt. Jedes! Und wir Erwachsene kennen den kürzesten und sichersten Weg zur Traumerfüllung: den Weg zur Schule. Vom Traum, über Bildung, zur Realität. Eine Selbstverständlichkeit in einer sozial-modern-entwickelten Welt: zur Schule gehen zu können. Jene Kinder, denen diese Gleichberechtigung verwehrt bleibt, werden als Erwachsene ihre Träume platzen hören. Nicht mit einem sanften Plopp wie eine zerplatzende Seifenblase, sondern erschreckend laut. Mitten ins Herz. Bisweilen tödlich. Wie die vom Cowboy aus seinem Colt abgefeuerte Kugel.
Die Zeit des Wilden Westens ist vorüber. Jene wilde Zeit, in der Kinder keinen Zugang zur Schulbildung haben, hält an. Nach wie vor geht’s ums Leben. Damals ums Überleben mittels Waffen. Heutzutage geht’s um ein selbstbestimmtes Leben, möglich gemacht durch die Bereitstellung des universellen Kindertraumverwirklichungswerkzeuges. Es geht um Bildung. Um die Erfüllung dieses Traumes eines jeden Kindes. Wird dieser eine Traum erfüllt, hat das heranwachsende Kind eine faire Chance, sich als Erwachsener seine weiteren Träume selbstbestimmt zu erfüllen. Gemäß des leicht abgewandelten Zitates des italienischen Philosophen, Dominikaners und Dichters, Tommaso Campanella, (1568 – 1639): »Träume nicht dein Leben, lebe deinen (Kinder-)Traum«.
Dafür Sorge zu tragen – Zugang zur Bildung für viele, möglichst für alle, ganz besonders für unterprivilegierte Kinder – ist das erklärte Ziel eines zur Realität gewordenen Traumes: das der Child‘s Dream Foundation. Deren Gründer, die beiden Schweizer Daniel und Marc, waren auch einst träumende Kinder. Nutzten ihre Möglichkeit – Dank Bildung! – sich ihren beruflichen Traum zu erfüllen. Bauten ihr (Berufs-)Leben auf ein sicheres Fundament. Lebten ihren Traumberuf als Banker. Sowohl national als auch international. In der Schweiz, in Hongkong, in Seoul und in Singapur. Steile Musterkarrieren. Anerkennung, Euphorie, Erfolg. Ernüchterung nach ein paar Jahren. Unterschwellig keimten Zweifel an diesem glänzenden Leben in der Finanzwelt. Bis dato verblendet durch die in der Sonne gleißenden Wolkenkratzerfassaden der Bankmetropolen. Selbstkritische Blicke hinter die eigene Fassade. Fragen nach dem eigentlichen Sinn und Zweck ihres alltäglichen Tuns: der Kapitalsteigerung um jeden Preis. Zur Zufriedenheit der Bank, der Anleger, der Spekulanten. Immer mehr und immer schneller. Schwindelerregende Progression. Hochhaushoch hinaus. Dennoch war es nie genug. Nie, so erkannten Daniel und Marc, würde es genug sein. In dieser von Zahlen und Zinsen, Profiten, Prozenten und Potenzen, Bilanzen und Analysen geprägten Welt. Nie-nie-niemals. –
Mit dem Mut und dem Willen, aber auch konfrontiert mit der Angst, die jede Veränderung mit sich bringt, analysierten sie ihr junges Leben. Trauten sich zu träumen. Wachten auf, vertrauten ihrer Intuition und entschieden, das Geträumte – Dank Bildung! – selbstbestimmt zu verwirklichen: den Aufbau einer Kinderhilfsorganisation.
Vierzehn Jahre sind seitdem vergangen. Seit der Gründung von Child‘s Dream in 2003 schlossen sich den beiden „Träumern“ viele-viele Kindertraumverwirklichungshelfer an: »You’ll Never Work Alone!«, nicht nur in der Industrie, auch in der Entwicklungshilfe. Als Mitarbeiter oder Volontär, als Spender oder Botschafter. Summa summarum ein multikulturelles Team im gemeinschaftlichen Engagement. Ausgerichtet auf Schulbildung. Von Kindesbeinen an. Eben weil diese (nicht die Beine, die Bildung!) einer der wichtigsten Faktoren für nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung darstellt. Weil Bildung nicht nur die Zukunft des einzelnen Kindes verbessert, sondern die der Gemeinschaft: in der von Child‘s Dream ausgewählten Mekong-Subregion. In Thailand, Laos, Myanmar und Kambodscha. Über Grenzen hinweg. Mit grenzenloser Liebe gelebt, geführt und gelenkt. Theoretisch und praktisch. Ein Mechaniker würde sagen: effektiv verzahnt und funktional wie ein gut geöltes, (fast) reibungslos arbeitendes Getriebe. Zur Übertragung und Umformung von Bewegungen, Kräften und Energien. Angetrieben vom Hauptsitz in Chiang Mai, übertragen auf die Niederlassungen in Rangon und Siem Reap. Von dort aus in die einzelnen Projekte. Authentisch. Professionell. Transparent.
Fraglich ist, was um alles in der Welt zwei erfolgreiche Banker dazu bewegte, Stifter zu werden? Und warum um Himmelswillen so viele andere Erwachsene, inklusive mir, ihrem Traum folgen? Blindlings, durch das auf dem Finanzmarkt bekannte Phänomen des Herdenverhaltens? Folgen, weil alle folgen. Weil ein realistisch angepriesener Traum, eine profitversprechende Investition, ansteckend und mitreißend ist. Oder weil ihr Lebenswandel andere Menschen motiviert, statt eines ich-bezogenen Lebens ein philanthropisches zu führen. Was nichts mit der Berliner Philharmonie und dem tropischen Regenwald zu tun hat. Lediglich mit deren altgriechischer Wortherkunft, mit „Der heißen Liebe zur Harmonie“. Durch und durch menschenfreundlich im Denken und Verhalten. Oder gibt es gar einen komplizierteren, unbewussten Grund für derartige Lebenswandlungen im Sinne einer guten Sache?
»Die Antwort ist simpel«, strahlen Daniel und Marc.
»Weil sich die Verwirklichung eines Kindertraumes – Kindern helfen, ihren wertvollsten Traum zu erfüllen – einfach gut und richtig anfühlt. Weil dieses Child‘s Dream-Gefühl nicht vom Kopf, sondern aus dem Herzen kommt.«
Chiang Mai, Thailand im Februar/März 2017
Stephan Thiemonds